Blaumachen und Rotwerden
Genau die Politik, die für die erhöhten Krankenstandszahlen verantwortlich ist, instrumentalisiert diese gegen die Beschäftigten.
Beim „Arbeitgebertag 2024“ Ende Oktober, also an einem der 365 Arbeitgebertage des Jahres, stellte der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr unmissverständlich fest: „Die Krankheitstage sind zu viel. Weg mit der telefonischen Krankschreibung und hin zu mehr Eigenverantwortung!“ Was in aller Sinnlosigkeit wie siegessichere liberale Selbstpersiflage klingt, ist leider eine sehr präzise Drohung. Denn „Eigenverantwortung“ heißt unter den gegebenen Bedingungen schließlich, die Beschäftigten auf die Verantwortung für diejenigen zu verpflichten, die mehr ihr Eigen nennen als nur ihr volle oder schon beschädigte Arbeitskraft. Der aktuelle Hintergrund sind Jahr für Jahr neue Rekorde bei den Krankenständen, die das Wirtschaftswachstum belasten. Nun wird den Beschäftigten implizit vorgeworfen, sie würden bloß blaumachen und grundvernünftige Mittel wie die telefonische Krankschreibung ausnutzen. Ihre Verantwortung liegt darin, wenn schon nicht die individuelle Krankheitslast – dafür werden ihnen ja auch immer weniger Möglichkeiten zugestanden –, so immerhin die gesellschaftliche Krankenlast zu verringern. Nach und nach wird also noch mehr Druck aufgebaut, krank zur Arbeit zu gehen, was sich zudem auf einen ohnehin existierenden Trend hin zu mehr „freiwilligem“ Präsentismus stützen kann. Auch der Vorschlag des Bundesärztepräsidenten Klaus Reinhardt, einen Teilzeitkrankenstand einzuführen, ist darauf ein Vorschein. Mag Gesundheitsminister Lauterbach die Idee noch verworfen haben, so gibt die schon von der Ampelkoalition vorbereitete schrittweise „Rückabwicklung des Bürgergelds“ (Paritätischer Gesamtverband) wohl auf längere Sicht auch die Marschroute in puncto Krankenstandsregelung vor. Das ist, angesichts der CDU-Ankündigung, im Falle der Regierungsübernahme mit der kompletten Abschaffung des Bürgergeldes Hunderttausende in alternativlose Not zu treiben, aber noch die optimistischere Annahme. Auch die Oppositionspartei BSW braucht sich dank ihrer Unterstützung der parteiübergreifenden Opposition gegen Mitmenschlichkeit diesbezüglich nicht verstecken. Wie Statistiken zeigen, ist der Produktivitätsverlust durch Präsentismus, je nach tatsächlicher Tätigkeit, Betrieb und Branche, mitunter sogar höher als durch Absentismus. Die instrumentelle Vernunft von Maßnahmen jedenfalls, die ersteren befördern werden, liegt also nicht unbedingt in einem unmittelbaren Vorteil für Unternehmer, sondern vorerst in der zusätzlichen Disziplinierung der Lohnabhängigen.
Arbeitssuchende oder Personen mit Erwerbsminderung „immerhin“ am sogenannten soziokulturellen Existenzminimum zu halten, bedeutet auch: sie in gerade so geringer absoluter Not zu belassen, dass sie im Falle als in Saus und Braus lebende Sündenböcke für die Misere der Beschäftigten bereitstehen. Würde sich die CDU durchsetzen, und würden verfassungswidrig sehr vielen Menschen die Leistungen durch Sanktionen bis zur akuten Nahrungsmittel- und Wohnunsicherheit gekürzt werden, würde die Abschreckungsfunktion dominieren; doch ohne dass die Sündenbockfunktion, die lange genug nachhaltig gepflegt wurde, verschwinden müsste. Diese Kombination ist eine Win-Win-Situation: für die Kapitalseite. Und wird auf Seiten der Beschäftigten zu einem immerhin doppelt abgesicherten Abgrenzungsbedürfnis gegenüber unten führen, gegen das man sich dort unten wiederum auch nur durch eine verzweifelte Identifikation mit oben zu wehren weiß. Eine im Ausmaß lange nicht mehr gekannte Fetischisierung der eigenen Leistungsfähigkeit wird mit diesen Entwicklungen Schritt halten können. Diese ist die beste ideologische Barriere gegen die Einsicht, dass sich diese Leistungsfähigkeit mittlerweile ohne Umwege in die Kraft verwandelt, an der Unumkehrbarkeit der Klimakatastrophe mitzuarbeiten. Wer sich vor Wohnungslosigkeit fürchten muss, dem wird die künftige Unbewohnbarkeit des Planeten nicht so wichtig sein, das sagt einem schon der Hausverstand. Hat die besagte Barriere lange genug gehalten, wird selbst nach ihrem Einreißen als letzter Rest des Klassenkompromisses auch nur der Stolz der Lohnabhängigen darauf übrigbleiben, das Ihre zur Katastrophe beigetragen zu haben.
Ähnliche Muster könnten auf die Einschränkung von Krankenstandsrechten zutreffen. Die Verachtung der Kranken, die es sich angeblich nur gemütlich machen, und der Schrecken vor dem Wissen, dass es ihnen ungemütlicher als je gemacht wird, werden leider koexistieren können. Zu rechtlichen Veränderungen wird sich auch eine verstärkte Kontrollrepression, wie sie Tesla in Brandenburg schon vorlebt, direkt von Seiten der Betriebe gesellen. In anderen europäischen Ländern sind die Ideen schon weiter ausgereift. Die Wirtschaftskammer Salzburg fordert das Aussetzen der Lohnfortzahlung am ersten Tag des Krankenstandes; in Frankreich stellte Haushaltsminister Laurent Saint-Martin Pläne vor, Beamten die ersten drei bezahlten Krankenstandstage zu streichen, was zumal Lehrer trifft, die aufgrund der Arbeitssituation verhältnismäßig stark von Krankheiten betroffen sind; auch in Finnland steht die Lohnfortzahlung unter Beschuss. Doch schon den Kleinsten muss klar werden: Krankheit darf einen nicht daran hindern, jeden Tag Dinge lernen zu wollen, die man fürs spätere sinnlose und krankmachende Schuften brauchen wird. Nachdem der Anteil der „persistent absentees“ (Schüler, die wegen Krankheit längere Zeit nicht zur Schule kommen) im Vereinigten Königreich stetig steigt, wurde Anfang 2024 die Initiative „Moments matter, attendance counts“ gestartet. In Broschüren werden Eltern darüber aufgeklärt, mit welchen Erkrankungen sie die Kinder gut und gerne in die Schule schicken sollen. –Sind all diese Schleusen einmal geöffnet, werden sie sich auch von möglichen linkeren Regierungen sehr schwer schließen lassen. Gegen das ideologisch-materielle Perpetuum mobile, dass schlechtere Krankenstandsregelungen die Menschen kränker machen, was wiederum eine Verschärfung der Krankenstandsregelungen als letzte gesellschaftliche Rettung erscheinen lässt, ist kaum etwas auszurichten. Die Entwicklungen bei der Institutionalisierung der Sterbehilfe, etwa in Kanada, die dort mittlerweile ein Mittel der repressiven Sozialpolitik zu werden droht – es wird die Ausweitung des freiwilligen Sterbeprogramms auf psychisch Erkrankte und Drogenabhängige ernsthaft diskutiert –, legen das zumindest nahe.
Diese Angriffe auf Krankenrechte sind ein leichtes Spiel. Den Betroffenen gehen die Argumente aus, und den Treffenden reichen Spekulationen, wie hier exemplarisch in einer Aussendung der Frankfurt University for Applied Sciences: „Entsprechende Studien weisen auf einen Wertewandel in der deutschen Gesellschaft als weitere mögliche Ursache für den erhöhten Krankenstand hin. Die ins Arbeitsleben eintretende Generation Z legt Wert auf private Beziehungen und Aktivitäten in der Freizeit, und die Bindung an den Arbeitgeber nimmt bei allen Beschäftigten ab. Hinzu kommt, dass die Verbreitung von Homeoffice und der veränderte Arbeitsmarkt einen Jobwechsel für Fachkräfte problemlos möglich machen.“ Weil das Aussprechen wesentlicher gesellschaftlicher Ursachen für eine steigende Krankheitslast mit einer Art Tabu behaftet ist, sind die Beschäftigten darauf zurückgeworfen, sich gegenseitig vorzuhalten, zu oft krankzumachen oder sich individuell zu leichtfertig krank machen zu lassen. In einer Gesellschaft, in der einen nicht gleich das schlechte Gewissen plagt, sobald man sich die Frage stellt, ob Lohnarbeit grundsätzlich krank macht, leben wir jedenfalls nicht. Auch die Krebsforschung verliert komplett den Fokus auf arbeitsplatzbedingte Risiken, und sucht Problematisches nur mehr im individuellen Verhalten und der genetischen Prädisposition, wie z. B. der Arbeitsgesundheitsforscher Wolfgang Hien darlegt. Dass Arbeit, wie sie eben organisiert ist, in der aktuellen Situation – dazu muss man nicht zwingend in den Kategorien Kapitalismus, Ausbeutung und Lohnarbeit denken – die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören hilft, wandert dennoch diffus ins allgemeine Bewusstsein ein. Der Basler Soziologe Simon Schaupp zeigt das beispielhaft an den Schweizer Bauarbeitern, die er für sein Buch „Stoffwechselpolitik“ ausführlich interviewt hat. Zur brutalen, realen Ironie gehört, wie dieses Wissen zu einer noch engeren emotionalen Bindung an die Lohnarbeit – der „Exekution des objektiven Wachstumszwanges durch das Subjekt“ (Tomasz Konicz) – führt. Unter der Bedingung der Ausweglosigkeit ist die umso beherztere vorauseilende Verteidigung der Lohnarbeit eine Reaktion auf das eigene Gefühl, diese Institution eigentlich in den Grundfesten angreifen zu wollen. Jede weitere Verdichtung der Arbeit, jede Verschlechterung der Bedingungen am Arbeitsplatz wird damit gerechtfertigt werden können, dass die Lohnarbeit, die ihnen immerhin ihre prekäre Existenzberechtigung garantiert, vor der Schwäche der Lohnarbeiter geschützt werden muss. Das ist nicht wirklich gesund.
Ein Artikel zu den gesellschaftlichen Ursachen des erhöhten Krankenstands kann nicht ohne einen Hinweis auf COVID-19 auskommen. Mit COVID-19 gesellt sich zu den Rhino-, Adeno-, den anderen Corona- und den Influenzaviren eine weitere Infektionskrankheit, die noch dazu nicht primär saisonal auftritt und bei der häufig Reinfektionen auftreten. Nach wie vor sterben an dieser Erkrankung weltweit viele Menschen, vor allem sogenannte Vulnerable, also alte, kranke, behinderte, arme Menschen. Jede Infektion mitdem Coronavirus, das die Fähigkeit besitzt, alle Organe einschließlich des Gehirns zu befallen und zu schädigen, bringt die Gefahr von Langzeitschäden mit sich. Nach einer Infektion sind zum Beispiel die Risiken erhöht, Diabetes oder eine neurodegenerative Erkrankung zu entwickeln, einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall und Hör- oder Sehschäden zu erleiden, und, oft unterschätzt, eine Immunschwäche auszuprägen. Letztere macht Betroffene anfälliger für z. B. bakterielle und andere Infektionen. Dafür spricht auch, dass in Europa plötzlich wieder Krankheiten eine große Rolle spielen, die in den letzten Jahren fast vergessen waren, wie etwa Masern, Keuchhusten oder Mykoplasmen-Infektionen. Das Long-COVID-Risiko ist kumulativ; jede Reinfektion erhöht also das Risiko, Folgeschäden zu erleiden. Obwohl die Forschung Fortschritte macht, fühlen sich viele Patienten im Stich gelassen. Long COVID wird und wurde oft psychopathologisiert, was zur Verschreibung von Aktivierungstherapien führt, die allerdings für manche Patientengruppen – etwa solche mit PEM (Post Exertional Malaise) – schädlich sein können. Viele von Long COVID betroffene Menschen sind erwerbsgemindert. Auf einen angeblichen Wertewandel hinzuweisen, oder öffentlichkeitswirksam Arbeitsunwilligkeit zu unterstellen, sind also auch Mittel, die Rolle von SARS-CoV-2 kleinzureden. Im Vereinigten Königreich ist der Zusammenhang besonders klar: Seit 2019 ist die Zahl der Menschen, die aufgrund einer Langzeiterkrankung oder Behinderung nicht arbeitsfähig sind, um 900.000 gestiegen.
Nicht nur die erhöhten Krankenstandszahlen haben ihren Ursprung in der Pandemie, sondern auch die entsprechende Ideologiebildung.Ja, die Coronapolitik der Bundesrepublik war unter anderem deswegen autoritär, weilsie das Fehlen eines ausreichenden Gesundheitsschutzes mit einem Zuviel an Repression zu schein-kompensieren suchte. In weiten Teilen der Gesellschaft wurde daher letztlich Gesundheitsschutz mit Repression identifiziert. Bei ihnen steht demnach kaum auf der Agenda, die höhere Krankheitslast in der Bevölkerung wegen anderem als nur der Sorge um den Standort zu beklagen. So ergibt sich eine Rechnung, nach der Krankwerden aufgrund fehlender Schutzmöglichkeiten Freiheit bedeutet, Krankmelden aber einen egoistischen Angriff aufs Gemeinwohl. Auch die Idee des Teilzeitkrankenstandes – die eher nicht in einer arbeitnehmerfreundlichen Form umgesetzt werden wird – hat in der „Arbeitsquarantäne“ einen unrühmlichen Vorläufer. So mussten sich etwa ausländische Spargelstecher, die Kontaktpersonen waren oder symptomlos infiziert waren, zuhause isolieren – außer in ihrer überlangen Arbeitszeit, wo sie ungeschützt den deutschen Spargel retten durften.
Paul Schuberth