Paul Schuberth

Aufarbeitung der Nachbetrachtung

Über einige Leerstellen der gängigen Pandemienachbetrachtungen

Paul Schuberth

 

Die Vulnerablen werden auf der Strecke bleiben.“ So hatte der US-amerikanische Epidemiologe Anthony Fauci die Bedrohungslage im Jahre 2023 angesichts kommender COVID-19-Infektionswellen zusammengefasst. Eine Aussage, mit der er den Wegfall von Schutzmaßnahmen keineswegs kritisieren, sondern verteidigen wollte. Dennoch: Diese schonungslose Offenheit darüber, was die Beendigung aller Versuche eines zumindest partiellen Infektionsschutzes mitunter bedeuten kann, fehlt heute in der öffentlichen Diskussion fast völlig. Zwar gehören regelmäßige Berichte über das Leiden von Long-Covid-Betroffenen mittlerweile zur „neuen Normalität“, genauso wie die jahrzehntelange politische Ignoranz gegenüber der schwerwiegenden Erkrankung ME/CFS endlich als Skandal anerkannt wird. All das steht aber seltsam unvermittelt neben einer gesellschaftlichen Realität, in der man sich offenbar auf ein klare Absage an Prävention, die ihren Namen wirklich verdient, geeinigt hat. Parallelen zu anderen Phänomenen sind nicht zu übersehen. Einem immer größeren Bewusstsein über die Klimakatastrophe stehen die Renaissance der fossilen Energie sowie der Boom verschiedener Scheinlösungen wie etwa Emissionsmärkte gegenüber; und die Selbstverständlichkeit antirassistischer Rhetorik in vielen Milieus funktioniert mittlerweile ungewollt auch als Schleier, der zum Beispiel die steigende Gewalt und Todesgefahr an den EU-Außengrenzen, aber auch an ihren externalisierten Grenzen – in den Abschiebegefängnissen der Türkei oder den nordafrikanischen Wüstengebieten – zu überdecken vermag. Eine Gesellschaft jedenfalls, die die nach wie vor andauernde zusätzliche Gefährdung der Vulnerablen, also von alten, kranken, armen Menschen, von Menschen mit Behinderungen und von an Long-Covid leidenden Menschen, als schicksalhaft und unabwendbar akzeptiert hat, bringt auch entsprechende „Pandemienachbetrachtungen“ hervor. Diese Maßnahmenevaluierungen erfolgen meist nicht im Hinblick darauf, wie der Einzelne möglichst gesund durch die Pandemie hätte kommen können, sondern – mal nur implizit, mal deutlicher – im Hinblick darauf, wie die Volkswirtschaft mit noch weniger Schäden und Einschränkungen diese Zeit überstehen hätte können. Hinzu kommt ein Druck von rechter Seite, die immer noch mit Anti-Maßnahmen-Furor Wahlkampf macht; ein Druck, der so stark wirkt, dass sich konservative und sozialdemokratische Politiker beinahe genötigt sehen, sich in der Rückschau für die Rettung von Menschenleben zu entschuldigen.

 

Bias der Nachbetrachtungen

Ein kleiner Teil einer völlig einflusslosen Linken erkennt bei der herrschenden Form der Pandemiepolitik-Nachbetrachtung einen ableistischen Drall: Denn als Maßstab gilt der nicht vorerkrankte, arbeitsfähige, in relativem Wohlstand lebende Mann. Die Nachbetrachtung nach den sogenannten Schwächsten auszurichten, erschiene als nichts außer absurd. Spricht das nicht Bände über die Prioritäten dieser Gesellschaft? Die oben benannte Art der Evaluierung kann schon deswegen keine grundsätzliche Kritik der Pandemiepolitik zeitigen, da ihre Grundsätze im Prinzip schon das Management der Schutzmaßnahmen bestimmt haben.Vielen Entscheidungsträgern mag der grundsätzliche Schutz der Bevölkerung ein ehrliches Anliegen gewesen sein. Eine Analyse aber, die sich auf eine Auseinandersetzung mit der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft stützt, könnte ergeben, dass der Gesundheitsschutz „bloß“ ein notwendiger Nebeneffekt war.1 Ein Effekt dessen, die arbeitende Bevölkerung en gros fit zu halten, damit der Prozess der Verwertung der Arbeitskraft nicht nennenswert eingeschränkt wird. Man muss sich vor Augen führen, wer nicht in die Kategorie „arbeitende Bevölkerung“ fiel: ältere und kranke Menschen in Pflegeheimen, oft ohne die Möglichkeit, sich im Krankheitsfall gut zu isolieren; Insassen von Justizanstalten in Gemeinschaftszellen; Geflüchtete in Asylheimen, in denen wirksamer Infektionsschutz oft nicht möglich war; psychisch schwer erkrankte Menschen, für die das Einhalten der wichtigsten Maßnahmen zum Eigenschutz mitunter nicht umsetzbar war; Obdachlose, die sich zwischen der Kältegefahr draußen oder der Infektionsgefahr in überfüllten Notunterkünften entscheiden mussten. Alle diese Menschen haben ein – in unterschiedlichem Ausmaß – erhöhtes Risiko für Infektion, Hospitalisierung und Tod. Kaum bekannt ist, dass das Sterberisiko für Menschen mit geistigen Behinderungen ebenso erhöht war wie für Menschen mit einer Schizophrenie-Erkrankung und Menschen mit Down-Syndrom.

 

Selektiver sozialer Fokus

Ebenfalls schlechteren Schutz fanden Menschen, deren Arbeitskraft als gemeinhin leichter ersetzbar gilt: Arbeiter:innen in sogenannten „unqualifizierten“ Jobs wie Lagerarbeit – eine Amazon-Niederlassung in Norddeutschland verbot der Belegschaft das Tragen von FFP2-Masken mit der Begründung, die Arbeitsleistung sei so eingeschränkt2 – und Arbeitsmigrant:innen in der Erntehilfe oder im Schlachthaus, die oft in beengten Sammelunterkünften wohnen mussten. Teilweise griff hier in Deutschland auch die legale Praxis der Arbeitsquarantäne: Im Krankheitsfall galt für die Betroffenen zwar grundsätzlich Quarantänepflicht, allerdings mit Ausnahme des Arbeitseinsatzes; um den deutschen Spargel zu retten, oder um rechtzeitig die geschlachteten Schweine auszunehmen.3 Heute wiederum auffallend ist, dass der soziale Fokus der gängigen Pandemienachbetrachtungen ein sehr selektiver ist. Zurecht wird die Verschärfung der sozialen Ungerechtigkeiten durch Schulschließungen, Lockdowns und erratische Zuteilung von Corona-Hilfszahlungen kritisiert. Oft genug aber wird zumindest implizit suggeriert, eine Vertiefung der sozialen Gräben sei eine quasi automatische Folge des verordneten Gesundheitsschutzes gewesen, was diesen, wenn auch ungewollt, insgesamt diskreditiert. Tatsächlich wusste kaum ein Staat das soziale Problem zufriedenstellend zu beheben. Somit scheint heute auch nicht klar zu sein, auf welcher realitätstauglichen Grundlage die Politik der Jahre 2020–2022, die die Zuspitzung sozialer Ungleichheit nicht zu verhindern vermochte, kritisiert werden könnte. Man müsste ins Utopische ausweichen: Die Schulschließungen etwa benachteiligten solche Kinder und Jugendliche, die zuhause kein ruhiges Umfeld zum Lernen und keine ausreichende Unterstützung beim Homeschooling vorfanden. Doch war das Aufrechterhalten des Noten-, Konkurrenz- und Leistungsdrucks – und damit des Selektionsdrucks – in der Schule im Jahr 2020 eine unabdingbare Notwendigkeit? In Vergessenheit droht zu geraten, dass auch die medizinischen Risiken höchst ungleich verteilt waren: Armut ist und bleibt ein Risikofaktor in Bezug auf Infektion sowie schwerere Verläufe und Tod. Sinnbildlich dafür steht noch immer der erste brasilianische COVID-19-Todesfall: Eine schwarze Hausangestellte aus einem Vorort von Rio de Janeiro verstarb, nachdem sie sich bei ihren Arbeitgebern, einer weißen Familie, die gerade von einer Italienreise zurückgekehrt war, angesteckt hatte.4 Zudem: Wer spricht noch von den, laut WHO, bis Mai 2021 ca. 100.000 an COVID-19 verstorbenen Gesundheitsbediensteten weltweit?5 Wer spricht von den 7,5 Millionen Kindern, die bis Mitte 2022 durch COVID-19 zu Waisen gemacht wurden?6 Wer spricht von den unwürdigen globalen Verteilungsproblemen der COVID-Impfstoffe?7

 

Pest und Cholera, und Corona

Zum Beispiel der am 28. Dezember im STANDARD veröffentlichte Text8 von David Krutzler und Klaus Taschwer zu den Nachwirkungen der Corona-Pandemie bietet einen guten Überblick, weist aber auch einige Unsicherheiten auf. Zum Beispiel wird angegeben, dass in der Wissenschaft umstritten sei, ob etwa der Weg des Laissez-faire (Großbritannien als ein Beispiel) oder der vorsichtigere Weg (z. B. Österreich) in der Nachschau vorzuziehen sei. Die Frage nach der Beurteilungskriterien bleibt offen. Richtet man sich nach ethischen Überlegungen – 232.000 COVID-19-Tote im UK, zusätzlich aktuell 900.000 mehr durch Langzeiterkrankungen erwerbsgeminderte Menschen als 20199 –, müsste die Sache klar sein. Doch sollte Österreich auch nicht als das extreme Gegenüber des „lockeren“ Zuganges angesehen werden. Österreich ist bloß ein typisches Beispiel dafür, wie Autoritarismus und etwas, das man Repression nennen könnte, nur dabei halfen, das Fehlen eines wirklich umfassenden Gesundheitsschutzes in prekären Zeiten vergessen zu machen. Das „Milliarden verschlingende“ Testregime zu geißeln, ist hingegen unangebracht. Vielen vulnerablen Menschen ermöglichte es, sich selbstbestimmt und kostengünstig ein sichereres Umfeld zu schaffen. Das ist doch nicht nichts! Richtig bleibt: Aus einer Überlegung heraus, die eine Kombination von umfassendem Infektionsschutz und der Abwehr des gröbsten sozialen Unrechts – innerhalb eines demokratischen Rahmens – nicht für absolut unmöglich hält, sind die beiden oben beschriebenen Wege nicht der Weisheit letzter Schluss. Viel eher der Bosheit erster Schuss: Sie führten jeweils zu zu vielen vermeidbaren Todesfällen. Zwei schlechte Alternativen gegeneinander auszuspielen, führt zu wenig Erkenntnis; höchstens dazu, die Erinnerung daran, wie es auch hätte sein können, vollständig zu begraben. Jeder erkennt die Unsinnigkeit darin, Klimapolitik nur im Rahmen der aktuell real gesetzten, viel zu wenig weitreichenden Maßnahmen zur Emissionsreduktion zu denken: Soll die katastrophale Klimapolitik der USA, oder doch die anders gelagerte katastrophale Klimapolitik Chinas Vorbild sein? Niemand wird infrage stellen, dass die Eindämmung der Klimakatastrophe, selbst wenn diese aktuell unerreichbar erscheint, dennoch ein anzustrebendes Ziel bleibt. So wie auch im Fall der Klimaproblematik ist es unredlich, die Pandemie nicht ebenso in Bezug auf das global herrschende Wirtschaftssystem zu analysieren. Andernfalls schiebt man ihr den Status einer schicksalhaft und alternativlos auf die Menschheit hereinbrechenden Naturkatastrophe zu. Analog zum „global warming“ sprechen Teile der Wissenschaft vermehrt von einem „global sickening“. Was ist damit gemeint? Unsere Lebens- und Produktionsweise bringt Umstände hervor, die das häufigere Auftreten von Epidemien und Pandemien immer wahrscheinlicher machen. Hochrelevant ist, was uns der US-amerikanische Evolutionsbiologe und Epidemiologe Rob Wallace seit Jahren beizubringen versucht: Die Häufigkeit von „spillover events“, das nachhaltige Überspringen eines tierischen Erregers auf den Menschen, steigt durch Waldrodungen, Massentierhaltung und durch das Vordringen des industriellen Agrarsektors in zuvor unberührte Natur. Weiters wird nach einem Ausbruch die Eindämmung eines Erregers dadurch erschwert, dass im Kapitalismus die kurzfristige konsequente Stilllegung gesellschaftlicher Aktivität erschwert ist: Bei Strafe des gesellschaftlichen Zusammenbruches ist es nicht möglich, auf die Produktion von nicht zum Überleben notwendigen Dingen wie Waffen, Flugzeugen, Billigkleidung und Smartphones zu verzichten. (Die Infektionsgefahr am Arbeitsplatz wurde auch während der Hochphase der Coronapandemie medial sträflich vernachlässigt.) Zu guter Letzt: Die immer stärker betriebswirtschaftlich ausgerichteten Gesundheitssysteme dieser Welt gelangen schnell an die Grenzen der Überlastung, so wie die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse die adäquate Versorgung aller Menschen mit Impfstoffen und Medikamenten verhindern.

 

Prävention und Inklusion

Kommen wir zum Anfang dieses Textes zurück: zur Frage der Prävention. Sie wird im erwähnten STANDARD-Artikel ausgeblendet, ähnlich wie in den allermeisten aktuellen Berichten zum Thema. Das ist ebenso fragwürdig, wie COVID-19 als eine von vielen Atemwegserkrankungen zu subsumieren. Die umfangreiche Forschungsliteratur gibt preis, dass es sich bei COVID-19 um eine Erkrankung handelt, die die Herz-, Lungen- oder Hirngesundheit entscheidend beeinträchtigen kann. Die Liste von möglichen Folgekomplikationen ist sehr, sehr umfangreich, nachzulesen nicht zuletzt im 2024 von u. a. den renommierten Long-Covid-Forscher*innen Ziyad Al-Aly, Akiko Iwasaki und Eric J Topol veröffentlichen Bericht „Long COVID research, science and policy“ im Magazin „Nature“. Die akute Gefährdung durch SARS-CoV-2 ist allgemein gesehen deutlich verringert, doch steigt mit jeder Reinfektion die Gefahr, Long COVID zu entwickeln. Long-COVID-Patient*innen sind vielerorts unzureichend medizinisch versorgt – die Berichte dazu sind Legion –, die soziale Absicherung ist oft mangelhaft. Offene Fragen bleiben: Warum gilt es als tragbar, wenn sich hochvulnerable Personen in Einrichtungen des Gesundheitsbereiches wegen fehlender Schutzmaßnahmen mit SARS-CoV-2 infizieren? Weshalb wird so wenig in Maßnahmen zur Luftreinigung in öffentlichen Gebäuden investiert? Warum wird in Zeiten höherer Inzidenzen nicht eindringlicher ans Maskentragen etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln erinnert? Sollte es nicht ein selbstverständlicher Teil gelebter Inklusion sein, solchen Menschen, die sich schlicht und ergreifend nicht infizieren dürfen, eine relativ gefahrlose gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen?

1Siehe z. B. die Bücher „Störung im Betriebsablauf“ von Thomas Ebermann oder „Seuchenjahre“ von Maximilian Hauer.