Beim Leben sparen
Ein Text über das außer Kontrolle geratene Sterbehilfeprogramm in Kanada.
Eine linke Position zur institutionalisierten Sterbehilfe scheint schnell gefunden. Solange nicht ausgeschlossen werden kann, dass hinter dem authentisch geäußerten Sterbewunsch nicht doch das Leiden daran, nicht einmal mehr als Material für kapitalistische Verwertung infrage zu kommen, oder ein gesellschaftlich induzierter, aber zu Eigen gemachter Ableismus steckt, sollten Linke der Propaganda des „Sterbens in Würde“ skeptisch gegenüberstehen, und weiter so erfolgreich wie bisher für ein Leben in Würde für alle kämpfen. Man kann es sich aber auch schwerer machen, indem man mögliche Einwände vorwegnimmt: Abstrahiert dieses Theoretisieren nicht auf ebenso inhumane Weise von der konkreten Situation einzelner Patient*innen? Das erwähnte Argument geht also zu weit. Und es geht zu wenig weit: Wer garantiert denn, dass in der ohnehin sehr unwahrscheinlichen befreiten, nicht-kapitalistischen Gesellschaft nicht anders gelagerte Drucksituationen entstehen würden? „Genosse, Schlappmachen gilt nun, da wir die Produktion um des Mehrwerts willen sowie sämtliche Berufskrankheiten abgeschafft haben, nicht mehr!“ Wer fürchtet, dass Lenins Aussagen zu den Faulenzern oder Kautskys Fantasie, dass es in der sozialistischen Gesellschaft keine Ausreden mehr für Krankheiten gebe, in der Restlinken ein geringes Nachleben haben könnten – der würde auch in einer ihren Vorstellungen entsprechenden Gesellschaft für den prekären Schutz von Menschen vor ihren eigenen Todeswünschen kämpfen. Nach aktuellem Stand wird aber nicht nur die etwas menschlichere Gesellschaft Utopie bleiben. Sondern auch bald die, in der der herbeigeführte frühzeitige Tod von kranken Menschen nicht als Lösung sozialpolitischer Probleme fungiert, zu einer solchen werden.
Was ist zum Beispiel aktuell in Kanada los, wo nicht nur linksradikale Zeitungen schreiben, dass der Staat seine „Armen und Behinderten euthanasieren“ würde?1 Bei aller Kritik an der unzureichenden Umsetzung der Idee der Inklusion – der Zugang zum MAiD-Programm (Medical Assistance In Dying, „medizinische Sterbehilfe“) jedenfalls ist erschreckend barrierefrei. Von 2016–2022 starben in Kanada 44.958 Menschen unter der Obhut von Ärzt*innen, alleine 2022 waren es 13.241. Einerseits bedeutet das eine Steigerung von 31,2 % im Vergleich zum Jahr davor, andererseits auch einen Anteil von 4,1 % an allen Todesfällen im Jahr 2022. Damit gehört Sterbehilfe zu den führenden Todesursachen in Kanada.2 2016 war von Regierungsseite noch betont worden, dass alles daran gesetzt werde, einen „slippery slope“ zu verhindern, also dem möglichen Gefälle hin zu einer Minderbewertung des Lebens schwächerer Menschen vorzubeugen, auf dass kein Druck auf sie entstehe, diese neue medizinische Leistung bei erster Gelegenheit in Anspruch zu nehmen. 2019/2021 zeigte sich, wie ernst dieses Versprechen gemeint war, als die „diskriminierende“ Regelung abgeschafft wurde, dass nur Menschen zum Programm Zugang haben, deren natürlicher Tod in absehbarer Zeit ohnehin bevorstehen würde.3
Doch sollen diese mittlerweile über 50.000 Menschen, die von unerträglichem Leiden befreit wurden, alle geirrt haben? Wie wäre es zu verteidigen, diese offenbar massive Nachfrage nach Sterbehilfe einfach zu ignorieren? Auf humane Weise lässt sie sich nicht ignorieren. Ignoriert werden sollte allerdings auch nicht, dass diese Unmöglichkeit wiederum mit einer doppelten liberalen Bestialität zu tun hat. Die eine Seite: Von konkreten Bedingungen – zu denen die Verschlechterung der medizinischen Versorgung, der Abbau sozialer Sicherungen, aber auch gesellschaftliche Ideologie gehören –, unter welchen solche Wünsche entstehen, wird meistens abgesehen. Die Nachfrage wird also absolut gesetzt. Andererseits scheinen diese Bedingungen nach dreißig Jahren neoliberalem Furor derart in Stein gemeißelt, so sehr gegen Änderung geschützt, dass die Nachfrage realistisch wirklich zu etwas Alternativlosem, Absolutem wird. So ist es auch zu erklären, warum der Hausverstand die tödliche Erlösung voreilig für die menschenwürdigere Wahl hält als die Alternativen, die nach und nach tatsächlich einkassiert werden. Ist die Sterbehilfe einmal eingeführt und anerkannt, droht die Idee, aus Gründen der Defensiv-Mitmenschlichkeit Menschenleben vorzeitig zu beenden, ein Eigenleben zu entwickeln. Das abstrakte Beharren auf der Gleichwertigkeit aller Menschenleben erscheint dann als die Bedrohung für Einzelne, die es unter dem Druck der beschriebenen, kaum mehr anfechtbaren Umstände tatsächlich zu werden droht. All das soll nicht im Allergeringsten als Affirmation dieses Wahnsinns gemeint sein; eher als Beschreibung, wie die Vernunft objektiv in den Abgrund mitgerissen wird. Die kanadische Hausärztin Ramona Coelho beschreibt dieses Dilemma in einem gegen das MAiD-Programm gerichteten Artikel: „Eine Ärztin sagte vor einem parlamentarischen Ausschuss zu MAiD aus, dass sie, wenn jemand lange auf eine Behandlung warten müsste, die sein Leiden lindert, diese Wartezeit dennoch als unheilbares Leiden betrachten und ihm in der Zwischenzeit MAiD gewähren würde. Daher ist es nicht überraschend, dass Patient*innen mit unbehandeltem psychosozialem Leiden von Gutachtern wie ihr MAiD erhalten.“4 Der Tod des Patienten soll also als Zwischenlösung fungieren, bis jemand eine bessere Idee hat. Dieses Zitat beweist, wie leicht es für ausführende Mediziner*innen ist, sich auf der richtigen Seite zu wähnen; die eigentlich humanere Entscheidung – nämlich den Tod von leidenden Menschen nicht aus dem Grund herbeizuführen, dass für sie keine adäquate medizinische oder soziale Versorgung bereitgestellt werden kann – hört sich mittlerweile schlichtweg inhumaner an. Einige bestürzende Fälle von MAiD-Antragsteller*innen wurden in den Medien diskutiert. So etwa die Geschichte einer an Fibromyalgie leidenden Frau, der keine Linderungsmöglichkeiten ihrer daraus resultierenden psychischen Qualen zuteilwurden; oder jene einer jungen Person mit Behinderung, die schlicht und ergreifend keine würdige Wohnsituation finden konnte. Einen gesellschaftlichen Druck auf notleidende Personen, die Option MAiD in Erwägung zu ziehen, gibt es längst, zunehmend aber auch einen noch direkteren: Laut Empfehlungen soll Patient*innen, die für MAiD infrage kommen könnten, im Rahmen des Patientenaufklärungsgespräches Sterbehilfe konkret angeboten werden. „Kein anderes Land der Welt hat assistierten Suizid oder Euthanasie als potenzielle therapeutische Option erster Wahl zur Linderung von Leid in dieser Weise normalisiert“, heißt es in einem wissenschaftlichen Beitrag zum Thema in der Cambridge University Press.5 Hinzu kommen die Diskriminierungen, die betroffenen Menschen zwar das Leben schwer, nun den Tod aber leichter machen. In einem Regierungsdokument aus British Columbia (2020) heißt es, dass 84 % der indigenen Bevölkerung angeben, diskriminierende Erfahrungen im Gesundheitswesen gemacht zu haben, die sie entmutigten, notwendige medizinische Hilfe zu suchen.6 Das wiederum führt zu schlechterer Gesundheit und damit zu erhöhter Vulnerabilität, in den Kreis der MAiD-Anpruchsberechtigten zu gelangen. Die gegen MAiD gerichtete Grassroots-Bewegung Disability Filibuster klärt zudem darüber auf, dass manche Menschen Einrichtungen des Gesundheitswesens, aus Angst, MAiD angeboten zu bekommen, tendenziell meiden.7
Der kanadische Journalist John Clarke hat für das ganze Malheur die treffende Bezeichnung „Austeritätseugenik“ gefunden.8 Ein paar Einblicke in das von Sparmaßnahmen gebeutelte kanadische Gesundheitssystem: Die Wartezeit etwa auf eine Behandlung durch einen Psychiater kann bis zu fünfmal länger sein als die 90-tägige Wartezeit auf eine tödliche Injektion. „Das bedeutet, dass eine Person (…), während sie auf die Behandlung durch einen Psychiater wartet, an MAiD sterben könnte, lange bevor sie Zugang zu einer angemessenen Behandlung erhält“, heißt es im oben erwähnten Bericht. Die Art, wie Sterbehilfe als eine bloß vorläufige Möglichkeit erscheint, schnell und effektiv verschiedene Symptomatiken zu lindern, hat etwas fast Gespenstisches. Schon 2005 hatte der Surpreme Court entschieden, dass die Wartezeiten im Gesundheitswesen das Recht auf Leben verletzen würde.9 „Auch die Wartezeiten für viele andere spezialisierte Gesundheits- und soziale Unterstützungsdienste, darunter Schmerzkliniken, spezialisierte Langzeitpflegeheime, gemeindenahes Wohnen und Invaliditätsleistungen, überschreiten die 90-tägige Frist bei weitem.“ Die kanadische Inklusionsministerin gab zu, dass es in manchen Gegenden einfacher sei, MAiD bewilligt zu bekommen, als einen Rollstuhl zu erhalten.10 Es könnte eingewendet werden, dass ein überwiegender Großteil der durch MAiD Gestorbenen in die Gruppe derer gehört, deren natürlicher Tod schon abzusehen war. Doch das bedeutet nicht automatisch, dass in diesen Fällen der Wunsch, früher zu sterben, ohne Zusammenhang mit äußeren Faktoren reifte. Denn wie oben angedeutet, lässt der Zugang zu Schmerz- und Palliativbehandlung mehr als zu wünschen übrig. John Clarke schreibt: „Nicht nur übt die Verschlechterung der öffentlichen Gesundheitsversorgung und der sozialen Infrastruktur Druck auf die Menschen aus, sich für die Sterbehilfe zu entscheiden, sondern je mehr diese ‚Wahlmöglichkeit‘ gewählt wird, desto einfacher wird es auch, den Unterstützungssystemen die Ressourcen zu entziehen, die ein Weiterleben ermöglichen würden.“ Es handelt sich um einen, auch ideologischen, Selbstläufer: Austerität sorgt für einen „natürlichen“ Boom der Sterbehilfe, der wiederum Kürzungen im Sozialbereich zum Wohle aller als vernünftig erscheinen lässt. Keine Behindertenrechtsorganisation, keine Ideologiekritikerin, nicht einmal katholische Hardliner scheinen dieser auf brutale Art beeindruckenden Dynamik etwas entgegenhalten zu können.
Auffallend ist die progressive Rhetorik, mit der zum Beispiel die Autonomie der dem MAiD-Programm Unterworfenen hochgehalten wird. Wo so viel hochgehalten wird, werden auch viele fallengelassen. Es ist nicht davon auszugehen, dass irgendjemand auf Seiten der politischen Verantwortlichen sich selbst die Überzeugung abkauft, es sei ein bedeutender sozialpolitischer Fortschritt, Arme, Kranke und Behinderte einem schnelleren Tod zuzuführen. Sogar eine von der Regierung in Auftrag gegebene Studie zu Inklusion während der COVID-19-Pandemie hält die Sorge über Berichte fest, dass sich Menschen mit Behinderungen und/oder Langzeiterkrankungen wegen des Fehlens geeigneter Unterstützung für MAiD entscheiden, sowie darüber, dass Menschen, die MAiD gar nicht in Erwägung gezogen hatten, zur Sterbehilfe ermutigt werden.11 Doch schon sind Ethiker*innen zur Stelle, die – trotz Anerkennung der „zutiefst tragischen“ Situation – Entwarnung geben. Eine Philosophin und ein Bioethiker der Universität Toronto argumentieren in einem Beitrag aus dem Jahr 2023 für das „Journal of Medical Ethics“: „Menschen, die sich bereits in ungerechten sozialen Verhältnissen befinden, auf die Verbesserung dieser sozialen Verhältnisse oder auf die Möglichkeit öffentlicher Wohltätigkeit warten zu lassen, die manchmal, aber unzuverlässig eintritt, wenn besonders belastende Fälle öffentlich werden, ist inakzeptabel. (…) Ein Ansatz zur Schadensminimierung erkennt an, dass die empfohlene Lösung notwendigerweise unvollkommen ist: ein ‚kleineres Übel‘ zwischen zwei oder mehr nicht idealen Optionen.“12 Hier kann wiederum der Verfasser dieses Artikels Entwarnung geben: So unvollkommen ist der Tod eines Menschen gar nicht. Es ist das eine, die barbarischen Mechanismen anzuerkennen, wie unter den Bedingungen der Austerität das Festhalten an der Gleichwertigkeit aller Leben zu einer Folter für einzelne Betroffene werden kann; den Schock anzuerkennen, dass man diese Form der Sterbehilfe als strenger Materialist eigentlich verteidigen müsste, den Schock, dass man Moral braucht, um den Materialismus in diesem Fall rein von tödlicher Konformität halten zu können. Und es ist etwas anderes, dem Geschehen das universitäre Ethik-Gütesiegel aufzudrücken. Die ideologische Dynamik, die hier angestoßen wird, droht irgendwann bei der Überzeugung zu landen, der rechtzeitige Tod des autonomen Individuums bedeute einen Sieg über die ungerechte Gesellschaft. Den Ethikern ist aber zugutezuhalten, dass sie Schwarz auf Weiß darlegen, warum die Polemik, bei MAiD handele es sich auch um ein Programm zur Lösung sozialpolitischer Probleme, gar nicht polemisch ist. Die veröffentlichten Berechnungen von Seiten des parlamentarischen Haushaltsbüro Kanadas, wonach eine Ausweitung des Sterbehilfeprogramms eine signifikante Kostenreduktion bedeuten würde, sind ein weiterer Hinweis darauf.13
Pläne hatten vorgesehen, MAiD als Option auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen, darunter Suchterkrankungen, zu legalisieren. Die entsprechende rechtfertigende Rhetorik wirkte wie aus einem Horrorfilm: „Es ist nicht fair, Menschen von der Anspruchsberechtigung auszuschließen, nur weil es sich bei ihrer psychischen Störung teilweise oder vollständig um eine Substanzgebrauchsstörung handeln könnte. Es geht darum, Menschen gleich zu behandeln“, argumentierte etwa ein Hausarzt bei einer Suchtmedizin-Konferenz.14 Die offiziellen Begründungen, die Expansion des Programms jedenfalls bis 2027 auszusetzen, sind nicht beruhigend: Die Regierung „hat verstanden (…), dass das Gesundheitswesen noch nicht bereit für diese Ausweitung ist“, ließ das Gesundheitsministerium im Februar wissen.15 Das ist deswegen beunruhigend, weil die bisherige Dynamik leider folgenden Zusammenhang befürchten lässt: Je mehr das Gesundheitssystem unter Druck gerät, und je schlechter es finanziert ist, umso eher ist es für eine weitere Liberalisierung der Sterbehilfe bereit.
3 https://theconversation.com/the-latest-medical-assistance-in-dying-decision-needs-to-be-appealed-heres-why-124955
5 https://www.cambridge.org/core/journals/palliative-and-supportive-care/article/realities-of-medical-assistance-in-dying-in-canada/3105E6A45E04DFA8602D54DF91A2F568
7 https://policyconsult.cpso.on.ca/wp-content/uploads/2022/11/POHR-MAID_Disability-Filibuster_20221128_Redacted.pdf
11 https://liveworkwell.ca/sites/default/files/pageuploads/DisabilityInclusionAnalysisCOVID-19_Final_031621_protected.pdf