Zum Wohl der Menschen beim Wohl der Menschen kürzen
In ganz Europa mehren sich die Angriffe auf Sozial- und Gesundheitsleistungen und Krankenstandsrechte
Rund um den fünften Jahrestag des Beginns der SARS-CoV-2-Pandemie kam es in der europäischen Öffentlichkeit kurz zu einer Konjunktur der medialen Pandemie-Nachbetrachtungen. Die Maßgaben, anhand derer die Pandemiepolitik dabei in den meisten Fällen rückblickend beurteilt wird, sind genau die, die schon die Gestaltung der Pandemiepolitik selbst bestimmt hatten: Garantie der Funktionsfähigkeit der arbeitsfähigen Bevölkerung, bei möglichst geringer Störung der Wirtschaftsabläufe. Die Rettung von Menschenleben war schon initial, streng materialistisch gedacht, nur ein notwendiger Kollateraleffekt gewesen. Ein Kollateraleffekt, der – als angebliches Hauptmotiv der Maßnahmen – dem Staat von einigen noch sehr übel genommen wird. Nur konsequent, dass in der Rückschau kaum gefragt wird, wie viele Menschen vor Tod und Versehrung geschützt werden hätten können. Wie der Einzelne, die Einzelne, die Pandemie gesünder hätte überstehen können, ist nicht von Interesse. Relevant scheint zu sein, ob die Nation nicht auch mit weniger Gesundheitsschutz, mit weniger Maskenpflichtsverordnungen, ohne Schulschließungen etwa, gut und gesund davonkommen hätte können. Dabei wird so getan, als ob diese „sachliche“, instrumentell-vernünftige Evaluation der Maßnahmen genau dem ureigensten Interesse der Menschen entsprechen würde. In jedem dieser Berichte „menschelt“ es noch und nöcher. Denn die Kinder zu Hause, die Maske in der Arbeit, die entgangenen Verdienstmöglichkeiten waren doch eine – vielleicht ganz unnötige! – Belastung? Letztlich laufen die gängigen Pandemienachbetrachtungen auf eines hinaus: den nachträglichen medialen Ruf nach weniger Gesundheitsschutz und noch größerer Gefährdung als Ausdruck eines genuinen, natürlichen Bedürfnisses der Menschen zu bestätigen. Die Evaluierungen arbeiten somit kaum einer künftigen Pandemie-Prävention zu. Eher sind sie vorauseilende ideologische Rechtfertigung einer drohenden Lockdown- und Maßnahmen-Prävention. In diesem Diskussionsklima erscheint es als nichts außer absurd, noch an die Perspektive vulnerabler Menschen zu erinnern. Schon die über 20 Millionen Pandemietoten scheinen für eine Erwähnung in vielen der gängigen „Pandemienachberichte“ nicht relevant genug zu sein. Da ist es nicht zu erwarten, dass auf die Millionen Kinder, die durch COVID-19 zu Waisen gemacht wurden, auf die über 100.000 durch COVID-19 verstorbenen Gesundheitsarbeiter*innen, oder auf die Abermillionen, die mit Langzeitschäden einer SARS-CoV-2-Infektion zu kämpfen haben, hingewiesen wird. Die politische Verhinderung von Infektionsprävention, letztlich die Destruktion von immerhin prekärer Public Health, wird in diesen Berichten ebenfalls ignoriert. So ist davon auszugehen, dass das doch oft vorgebrachte Interesse an der Lage von Long-Covid-Patient*innen ein instrumentelles ist: Man braucht die bestürzenden Fälle als tragische Einzelschicksale, als einzelne Menschen, „für die die Pandemie noch nicht vorbei ist“, um die „Individualisierung der Pandemie“ (Jonas Bayer) endgültig zu besiegeln und zu plausibilisieren. Die Schicksale der Menschen werden nicht primär angeführt, um die unfassbar schlechte soziale wie medizinische Versorgungslage zu skandalisieren – Long-Covid-Patient*innen sehen sich mitunter einer institutionalisierten Psychosomatisierung ausgesetzt, auf Long Covid spezialisierte Ärzt*innen haben ewig lange Wartelisten, Betroffene sind mitunter arbeitsunfähig, müssen aber gegen Versicherungen und Gutachter*innen um die Gewährung von Erwerbsminderungsleistungen kämpfen. (Katastrophale Missstände, die ME/CFS-Patient*innen und ihre Angehörigen seit Jahrzehnten nur zu gut kennen.) Nein, die Schicksale werden angeführt, gerade um die Nicht-Betroffenen oder Noch-Nicht-Betroffenen zu beruhigen. Dabei erkranken nach jeder Coronawelle Menschen, auch junge, neu an Long Covid.
Konnte man in den ersten Pandemiemonaten noch davon ausgehen, der gesellschaftliche Schock würde zu einem Druck auf die Politik führen, die Gesundheitssysteme zu stabilisieren, bessere Infektionsprävention wie saubere Luft in Innenräumen umzusetzen, Gesundheitsberufe aufzuwerten, so trat das Gegenteil ein. Als alleinige Erklärung taugt es zwar nicht; doch die während der Pandemie gesellschaftlich, politisch und medial vorbereitete diskursive Gleichsetzung von Freiheit und Gesundheitsgefährdung, von Gesundheitsschutz und Übergriff – kein Land Europas ist hier wirklich eine rühmliche Ausnahme –, spielte wohl doch eine Rolle dabei, die gesellschaftlichen Widerstandskräfte gegen Verschlechterung der Gesundheitsversorgung und Angriffe auf Krankenstandsrechte weiter zu schwächen. Im gesellschaftlichen Unbewussten sitzt es zu tief, dass all das doch im Sinne der Bürgerinnen und Bürger sein müsse. In vielen Ländern Europas haben die Menschen nun mit vielfältigsten Angriffen auf die sozialen und medizinischen Sicherungssysteme zu kämpfen, ebenso mit ideologischen Kampagnen gegen kranke Menschen. Und es scheint, als ob dieser den Menschen aufgezwungene, meist individuelle Kampf dank der Verschlechterungen sehr hilfreich dabei ist, dem kollektiven Kampf gegen die Verschlechterungen vorzubeugen. Dieser Artikel versucht einen kleinen Überblick über solche Angriffe.
Zunächst zum Mutterland der vorsätzlichen Angriffe auf die eigenen Sozial- und Gesundheitssysteme. Galt der NHS, das staatliche Gesundheitssystem des Vereinigten Königreichs, bis 2010 als vorbildlich, so verhalfen ihm die Austeritätsmaßnahmen unter konservativer Ägide zum Verfall. Studien legen nahe, dass die Einsparungen etwa 300.000 Menschen einen frühzeitigen Tod kosteten. Auch die Finanzierung des „Public Health Grant“, der den Kommunen Präventionsarbeit im Bereich der Suchterkrankungen oder Geschlechtskrankheiten ermöglicht, wurde seit 2015 um 27 % gekürzt, was ganz konkrete gesundheitliche Auswirkungen auf die Bevölkerung hat. Die enorme gesellschaftliche Ungleichheit kostet der Allgemeinheit – also jenen, die es sich nicht leisten können, Steuern zu hinterziehen – zusätzlich eine ganze Menge:Wie die „British Medical Association“ 2024 in einem Thesenpapier angab, gibt der NHS pro Jahr 2,5 Milliarden Pfund für die Behandlung von Krankheiten aus, die in direktem Zusammenhang mit schlechten Wohnbedingungen stehen. Der Zustand des NHS ist, wie die Labour Party im Herbst 2024 nach dem Wahlsieg selbst bestätigte, „broken“. Die Wartezeiten in den Notfallambulanzen sind, seit Jahren, durchschnittlich äußerst hoch. Für das Jahr 2023 berichtet die BBC etwa, dass 1,5 Millionen Patient*innen über 12 Stunden im Notfall auf Behandlung warten mussten, was pro Woche zu mehr als 250 unnötigen Todesfällen führte. Ein Begriff, auf den britische Zeitungsleser*innen immer öfter stoßen, ist „corridor care“ – also die medizinische Behandlung von Patient*innen in nicht-adäquaten Settings und Räumlichkeiten. In einer aktuellen Umfrage des Royal College of Physicians (RCP) geben 78 % der Ärzt*innen an, im vergangenen Monat Behandlungen in Orten wie Korridoren, Wartezimmern oder auch Badezimmern durchgeführt zu haben. Auch wenn das noch besser ist als Behandlungen in Notarztfahrzeugen oder keine Behandlung, bedeutet „corridor care“ nicht nur eine Einschränkung des Rechts der Patient*innen auf Privatsphäre. In der Zusammenfassung des RCP heißt es: „90 % der Ärzt*innen berichteten von eingeschränkter Privatsphäre und Würde der Patient*innen, während 81 % körperliche Schwierigkeiten bei der Versorgung hatten. Zudem hatten 75 % Probleme beim Zugang zu wichtiger Ausrüstung oder notwendigen Einrichtungen, und bei 58 % war die Patient*innensicherheit direkt gefährdet. Auch die Auswirkungen auf die Ärzt*innen selbst waren erheblich: 61 % gaben an, unter erhöhtem persönlichen Stress zu stehen.“ Eine dem Kapitalismus verpflichtete Regierung wäre keine dem Kapitalismus verpflichtete Regierung, wenn sie diese Missstände nicht auf Kosten der Verbesserung anderer Aspekte des Gesundheitswesens zu beseitigen trachtete. Die Reduktion der Wartezeiten hat zwar nun im Gesundheitsministerium oberste Priorität, doch sollen dafür andere, notwendige Programme gestrichen oder gekürzt werden: Der NHS streicht nun Pläne zur frühzeitigen Krebsdiagnose, zur Förderung der Frauengesundheit und zur Ausweitung des Zugangs zur Zahnbehandlung. Die Wohltätigkeitsorganisation „Mind“ kritisierte außerdem, dass jährliche körperliche Gesundheitschecks für 75 % der schwer psychisch erkrankten Menschen gestrichen werden, ebenso psychologische Therapieangebote für 700.000 Menschen jährlich, und der Ausbau der Unterstützung für Mütter mit psychischen Erkrankungen auf Eis gelegt wird. Die Regierung plant nun auch massive Personalkosteneinsparungen im NHS. Konkret sollen bis zu 30.000 Jobs, vorrangig in Finanzabteilungen und in der Verwaltung, gefährdet sein.1 Besonderes Aufsehen erregt allerdings die geplante Kürzung von fünf Milliarden Pfund bei den Leistungen für Menschen mit Behinderungen. Hunderttausende Menschen mit schweren Langzeiterkrankungen und Behinderungen – etwa Krebs, Multiple Sklerose, Lungenerkrankungen, psychische Leiden – werden von Unterstützungsdiensten abgeschnitten. Menschen verlieren dabei nicht nur Ansprüche auf Zahlungen wie das „Personal Independence Payment“ (PIP), sondern werden im System aufgrund des fehlenden Nachweises eines Unterstützungsbedarfes auch „unsichtbar“ werden. Das erschwert den Zugang zu anderen Hilfssystemen, wie z. B. Priorität bei Sozialwohnungen, Schutz bei Obdachlosigkeit oder Zugang zu bestimmten NHS-Organisationen. Offiziellen Berechnungen zufolge könnten durch diese Maßnahmen 250.000 Personen, darunter 50.000 Kinder, in Armut gedrängt werden. Dahinter steht natürlich die als menschenfreundlich präsentierte Agenda, Langzeiterkrankte den Zugang zu menschenfeindlich gestalteter Lohnarbeit zu „ermöglichen“. Liz Kendall, Arbeits- und Rentenstaatsekretärin meint dazu: „Wir glauben, dass das Freisetzen der Talente des britischen Volkes der Schlüssel für unseren zukünftigen Erfolg ist. Aber das Sozialsystem, das wir von den Konservativen übernommen haben, lässt genau die Menschen im Stich, denen es eigentlich helfen soll – und hält unser Land zurück.“ Dass die Konservativen das Sozialsystem noch nicht vollständig zertrümmert haben, hält das Land also zurück. Hier ist wichtig anzumerken, dass diese Politik wohl eine Reaktion darauf ist, dass sich seit Anfang der Pandemie die Zahl der Menschen, die aufgrund von Langzeiterkrankungen „economically inactive“ sind, um 900.000 erhöht hat.
Während in Deutschland vergangenes Jahr Diskussionen über einen „Teilzeitkrankenstand“ aufkamen, in Österreich über die Streichung der Lohnfortzahlung am ersten Krankenstandstag debattiert wurde, geht Frankreich im Rahmen des aktuellen Kürzungsprogramms der Regierung Bayrou schon einen Schritt weiter. Hier wurde mit 1. März die Lohnfortzahlung für Beamte im Krankheitsfall für die ersten 3 Monate auf 90 % gekürzt; mit 1. April wurde die Lohnfortzahlung im Privatsektor vom 1,8-Fachen des Mindestlohns auf das 1,4-Fache gekürzt.2 Zusätzlich kam es zu Verschärfungen bei den Regeln zur Arbeitslosigkeit.
In Finnland macht die rechte Regierung unter Beteiligung der Perussuomalaiset („Wahre Finnen“) seit 2023 große Fortschritte bei der Zertrümmerung des Sozialstaates. Schon bislang hatte die Bevölkerung mit Verschlechterungen im Sozialwesen zu kämpfen. Nun, Ende März, stellte die Regierung ein umfangreiches Kürzungspaket im Sozial- und Gesundheitsbereich vor. Zunächst sollen 50 Millionen Euro bei der Finanzierung der Sozialversicherungsanstalt Kela eingespart werden.Eine weitere einmalige Kürzung von 15 Millionen Euro betrifft die Spezialisierungsausbildung von Personal im Gesundheits- und Sozialwesen. Bei Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen werden 20 Millionen Euro eingespart. Bei der häuslichen Pflege sollen durch den Einsatz von Technologie 16,2 Millionen Euro eingespart werden. Der Dachverband der finnischen Sozialverbände kritisiert: „Zusätzlich zu diesen Einsparungen muss daran erinnert werden, dass die Bezirke für Gesundheitsdienste derzeit erhebliche Einsparungen vornehmen, um ihre Defizite zu decken, und die jetzt vorgeschlagenen Einsparungen zu diesen Einsparungen hinzukommen und weitgehend dieselben Menschen betreffen werden. In vielen Bereichen haben die Aufsichtsbehörden bereits auf die unzureichend organisierte Kinderwohlfahrt, Altenhilfe, Hilfe für suchterkrankte Menschen und psychische Gesundheitsdienste aufmerksam gemacht.“3
Auch in den Niederlanden will die rechte Regierung Pläne verfolgen, 600 Millionen Euro im Gesundheitsbereich und beim Arbeitslosengeld zu kürzen. So sollen die Sozialversicherungsbeiträge signifkant steigen, und die mögliche Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf 18 Monate gekürzt werden.4 Dabei erleidet das niederländische Gesundheitssystem ohnehin eine Krise; besonders deutlich zeigt sich das an den Zahlen zum Personalmangel: Schätzungen gehen davon aus, dass 2035 mit 266.000 unbesetzten Stellen im Gesundheitssektor zu rechnen sein wird.5 Schon 2024 war auf EU-Ebene die Kürzung des Programms EU4Health um 20 % des gesamten Budgets beschlossen worden. Unter anderem, um mehr Geld für Abschottung zur Verfügung zu haben. Auch das bedeutet ganz konkrete Verschlechterungen in den Bereichen Prävention, Zugang zu Arzneimitteln, Ausbau der Gesundheitssysteme.
Auffällig ist, dass zum Beispiel sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ein Diskurs herrscht, der die jeweils eigenen Arbeiter*innen als Krankschreibungsweltmeister abstempelt. Eine gewisse Freude schimmert bei der Empörung darüber durch, denn der angebliche Weltmeistertitel ermöglicht den Regierungen, schon umgesetzte oder geplante Verschlechterungen bei Krankenstandsrechten zu rechtfertigen. Um die Kürzungen im Gesundheitswesen selbst zu beschönigen, braucht es ideologische Kampagnen, wie im britischen Beispiel, bei dem brutale Leistungskürzungen gegenüber Langzeiterkrankten als humaner Anreiz präsentiert werden, sich wieder dem krankmachenden System der mindestentlohnten Lohnarbeit anzudienen.
1https://www.theguardian.com/politics/2025/mar/14/30000-jobs-could-go-in-labours-radical-overhaul-of-nhs?utm_source=chatgpt.com
2https://entreprendre.service-public.fr/actualites/A16333#:~:text=À compter du 1er,durant ces 3 premiers mois.